Blessing-Autor Thomas Karlauf und Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, diskutierten kontrovers in der Bertelsmann Repräsentanz.
Knapp zwei Wochen vor dem 75. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 diskutierten am 08. Juli in der Berliner Bertelsmann Repräsentanz auf dem „Blauen Sofa“ der Stauffenberg-Biograf Thomas Karlauf und Professor Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand, über die historische Bewertung des Widerstandskämpfers. Karlaufs vom Blessing Verlag herausgegebene, aktuelle Biografie „Stauffenberg. Porträt eines Attentäters“ hatte nach ihrem Erscheinen eine Debatte über die Einordnung des Wehrmachtsoffiziers Claus Schenk Graf von Stauffenberg ausgelöst. In ihrer Begrüßung verwies Bertelsmann-Gastgeberin Helen Müller zudem auf Unter den Linden 1 als historischen Ort, der um den 20. Juli 1944 herum eine große Rolle gespielt hatte: Dort, wo heute die Bertelsmann Repräsentanz steht, befand sich damals nämlich der Dienst- und Wohnsitz des Berliner Stadtkommandanten Generalleutnant Paul von Hase. Er gehörte zum Kreis des militärischen Widerstands, seine Truppen sollten den Staatsstreich „Operation Walküre“ von Berlin aus ermöglichen. Der Offizier und einige seiner Mitarbeiter wurden in der Nacht des 20. Juli verhaftet, später zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Thomas Rathnow, Verleger des Buches und CEO der Verlagsgruppe Random House, stellte zunächst die Podiumsgäste vor. Thomas Karlauf hat als langjähriger Lektor des zur Verlagsgruppe Random House gehörenden Siedler Verlags zahlreiche Werke zum Deutschen Widerstand publiziert. Er habe damit die wechselnde historische Bewertung des Widerstands und seiner Protagonisten erlebt und mitgestaltet, so Rathnow. Außerdem habe der Literaturagent und Ghostwriter „seinen“ Autoren zu Sprache, Form und Wirkung verholfen. Johannes Tuchel stellte Rathnow als einen der renommiertesten und besten Kennern der Geschichte des Deutschen Widerstands vor.
Zum Auftakt des von der TV-Journalistin Vivian Perkovic moderierten Gesprächs charakterisierten die beiden Diskutanten die Persönlichkeit Stauffenbergs. Der Biograf Karlauf nannte den Soldaten und Einzelgänger Stauffenberg vor allem „eine glänzende Erscheinung“, „jemand, der den Raum füllte, sobald er ihn betrat“. Der Offizier sei „bis über die Grenze des Erträglichen“ von sich selbst überzeugt gewesen. „Er war eine merkwürdige Mischung aus kühler Rationalität eines Generalstabsoffiziers, der spezialisiert war auf Fragen der Logistik und der, wenn er Zeit hatte, nicht nur Cello spielte, sondern eben auch Gedichte von Stefan George las“, sagte Karlauf. Johannes Tuchel hob Stauffenberg als politischen Kopf und Strategen hervor, der ein großes Netzwerk intensiv gepflegt habe, um Mitstreiter aus Politik und Gesellschaft für die Zeit nach dem Militärputsch zu gewinnen. „Ich würde ihn nicht nur auf das Militärische reduzieren wollen. Ich denke, er wollte politisch auch gestalten“, so Tuchel.
Es folgte eine engagierte Debatte über zwei unterschiedliche Standpunkte: Thomas Karlauf erklärte, dass er mit seiner Biografie vor allem die Motive Stauffenbergs darlegen wollte und kritisch-nüchtern „die Wurzeln bloßlegen, aus denen sich das zur Ausübung einer solchen Tat erforderliche Selbstbewusstsein nährte“. Im kollektiven Gedächtnis fungiere das Stauffenberg-Attentat quasi als Klammer aller Widerstandsbewegungen, ohne das man sich heute nicht an die Widerstandsbewegungen gegen Hitler und das NS-Regime erinnern würde. Tuchel dagegen attestierte, dass Stauffenberg „ein vielschichtiger Mann“ gewesen sei, legte aber Wert auf die Feststellung, dass das Umfeld des Widerstandes unbedingt zum Gedenken des 75. Jahrestages dazu gehöre.
Auch in der Bewertung des gescheiterten Eroberungsfeldzugs der deutschen Truppen gegen die sowjetische Stadt Stalingrad im Herbst 1942 unterschieden sich die Podiumsgäste. Während Stauffenberg für Karlauf zu lange der NS-Ideologie angehangen und bis 1942 weder die Massenerschießungen von Juden noch den unmenschlichen Umgang mit den osteuropäischen Kriegsgefangenen kritisiert habe, erklärte Tuchel, dass Stauffenberg ab 1942 den Angriffskrieg der Wehrmacht für sinnlos und verbrecherisch gehalten und die Kriegführung als dilettantisch angesehen habe. Danach habe sich Stauffenbergs Einstellung zum Regime gewandelt. Dem widersprach Thomas Karlauf und verwies auf den Nationalisten Stauffenberg, der noch 1942 von einem Europa unter deutscher Vorherrschaft geschwärmt und begeistert an den „Endsieg“ geglaubt habe. Später habe Stauffenberg festgestellt, dass der Krieg nach Stalingrad nicht mehr zu gewinnen war, und mit einem Staatstreich das sinnlose Morden und Sterben beenden wollen.
Eine sehr eindrucksvolle und überzeugende Analyse von Stauffenbergs Ideenwelt, die sich jeder moralischen Bewertung enthält. Ian Kershaw
Thomas Karlauf, geboren 1955 in Frankfurt am Main, ging nach dem Abitur nach Amsterdam und arbeitete zehn Jahre für die Literaturzeitschrift "Castrum Peregrini". Von 1984 bis 1996 war er Lektor bei den Verlagen Siedler und Rowohlt und führt seither eine Agentur für Autoren in Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen zwei weithin beachtete Biografien: "Stefan George. Die Entdeckung des Charisma" (2007) und "Helmut Schmidt. Die späten Jahre" (2016).
Prof. Dr. Johannes Tuchel, Jahrgang 1957, studierte Politikwissenschaft in Hamburg und an der Freien Universität Berlin. Seit 1991 leitet Tuchel die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, seit 1994 die Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, zu der auch die Gedenkstätte Plötzensee, die Gedenkstätte Stille Helden und das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt gehören. Seit 1992 war er Lehrbeauftragter, seit 2000 Privatdozent, seit 2008 außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin und lehrt heute am Touro College Berlin. Tuchel veröffentlichte als Autor und Herausgeber zahlreiche Werke zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.
Wer war Claus von Stauffenberg? Die Figur des Oberst, der am Mittag des 20. Juli 1944 die Bombe zündete, die Hitler töten sollte, blieb in der Literatur immer schemenhaft. Wir kennen den langen Weg der Opposition, der schließlich zu dem Anschlag geführt hat, aber bis heute besitzen wir kein überzeugendes Bild von der Persönlichkeit des Attentäters. Weil wir in erster Linie nach moralischen Kriterien urteilen, tun wir uns mit der Einordnung des militärischen Widerstands generell schwer.
Die neue Stauffenberg-Biografie versucht, aufbauend auf dem aktuellen Forschungsstand und unter Berücksichtigung bisher unbekannter Quellen, die Ideenwelt des Attentäters zu rekonstruieren. Die Normen, die sein Denken und Handeln bestimmten, waren für ihn lange Zeit vereinbar mit Hitlers Politik. Erst im Sommer 1942 begann er umzudenken und die politische Verantwortung des Offiziers höher zu stellen als Pflicht und Gehorsam. Als er zwei Jahre später zur Tat schritt, fühlte er sich von den meisten seiner Mitverschwörer im Stich gelassen.
In jedem anderen Land Europas wäre einem Hitler-Attentäter schon wenige Tage nach Kriegsende ein Denkmal errichtet worden. Warum das in Deutschland nicht möglich war, zeigt dieses Buch.