Die Moderatorin CHRISTINE WATTY sprach mit: THEA DORN, Gastgeberin „Das Literarische Quartett“ | Publizistin und Autorin, JOHANNES FRANZEN, Literaturkritiker (54books.de), Literaturwissenschaftler und Autor, JÖRG MAGENAU, Literaturkritiker und Autor, MITHU M. SANYAL, Literaturkritikerin, Journalistin und Autorin.
Die traditionelle Literaturkritik in Printmedien, Radio und Fernsehen hat seit einer Weile Konkurrenz: jede Menge persönlicher Buchempfehlungen von Leserinnen und Lesern finden sich samt kurzer „Rezi“ auf Internet-Verkaufsportalen. Hier und da widersprechen sie dem Urteil der Literatur-Expertinnen und -Experten oder sie erfinden auf Social-Media-Kanälen (z.B. Instagram und TikTok) ganz neue Formen, mit denen sie ganz andere, jüngere und diversere Zielgruppen ansprechen, als die, die das klassische Feuilleton erreicht. Das macht ja nichts, könnte man sagen, und zur friedlichen Koexistenz aufrufen. Andererseits: müsste die Literaturkritik nicht auf diese Entwicklungen reagieren? Sollte es seine Formate, den Tonfall, die Zugangsformen vielleicht und auch die ein oder andere „Besetzung“ anpassen? Letzteres, weil es beispielsweise nach der Bekanntgabe der fünfzehn Nominierten zum „Preis der Leipziger Buchmesse 2021“ Kritik hagelte: unter den Nominierten befänden sich „keine Schwarzen Autor:innen und Autor:innen of Colour“ - das läge an der Besetzung der Jury. Das war nicht das erste Mal, dass sich das Genre der Literaturkritik fragen lassen muss, ob es einen zu gleichförmigen Blick auf die Welt der Bücher wirft. Wie also weiter mit der Literaturkritik?
Thea Dorn, Gastgeberin „Das Literarische Quartett“ | Publizistin | Autorin („Trost“ | Penguin)
Thea Dorn, geboren 1970, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt, Wien und Berlin und arbeitete als Dozentin und Dramaturgin. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane und Bestseller, Theaterstücke, Drehbücher und Essays und moderierte die Sendung „Literatur im Foyer" im SWR-Fernsehen. Seit März 2020 leitet sie als Moderatorin die ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett". Thea Dorn lebt in Berlin.
Trost: Als Johanna von ihrem alten philosophischen Lehrer Max eine Postkarte mit der scheinbar harmlosen Frage „Wie geht es Dir?" erhält, bricht es aus ihr heraus: Trauer über den Tod ihrer Mutter und Wut darüber, dass man ihr im Krankenhaus verwehrt hat, die Sterbende zu begleiten. Provoziert durch weitere Postkarten, beginnt Johanna, sich den Dämonen hinter ihrer Verzweiflung zu stellen. In diesem einzigartigen Postkarten-Briefroman erzählt Thea Dorn von den vielleicht größten Themen, die der gottferne, von seinen technologischen Möglichkeiten berauschte Mensch verdrängt: von der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und von der Suche nach Trost in trostlosen Zeiten.
Johannes Franzen, Literaturkritiker (54books.de) | Literaturwissenschaftler | Autor („Indiskrete Fiktionen | Wallstein)
Johannes Franzen, Jahrgang 1984, ist Literaturwissenschaftler an der Universität Bonn. Er schreibt als freier Kulturjournalist für Tageszeitungen und ist Redakteur beim Online-Feuilleton „54books“.
Indiskrete Fiktionen: Der Schlüsselroman ist eine zwiespältige Gattung. Hinter seinen scheinbar fiktiven Figuren erkennt man reale Personen, die mit suggestiven Strategien bloßgestellt werden. Der Autor nutzt den Schlüsselroman vielfach als Waffe in persönlichen und politischen Konflikten. Dadurch haftet dieser Gattung den Ruf ästhetischer wie mora- lischer Minderwertigkeit an; die Vorwürfe lauten: Boulevard, Meinungsjournalismus oder pseudokünstlerische Indiskretion. Anhand vieler Beispiele widmet Franzen seit den 1960er Jahren untersucht Johannes Franzen fiktions- und gattungstheoretische Probleme und widmet sich den ethischen Fragen, die die Verarbeitung realer Menschen in literarischen Texten aufwerfen. Es werden bekannte Skandale sowie Fälle aus der Peripherie des Literarischen analysiert, wie z.B. Thomas Bernhards „Holzfällen“, Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, Maxim Billers „Esra“, Klaus Rainer Röhls „Die Genossin“ und Helmut Karaseks „Das Magazin“.
Jörg Magenau, Literaturkritiker | Autor („Die kanadische Nacht“ | Klett-Cotta)
Jörg Magenau, geboren 1961 in Ludwigsburg, studierte Philosophie und Germanistik in Berlin. Er ist einer der bekanntesten deutschen Feuilleton-Journalisten und schrieb u. a. Biographien über Christa Wolf, Martin Walser und die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger. Zuletzt erschien von ihm „Bestseller: Bücher, die wir liebten ..." und bei Klett-Cotta die literarische Reportage „Princeton 66".
Die kanadische Nacht: In Kanada liegt der Vater im Sterben. Die Nachricht trifft seinen Sohn in einer Krise. Hinter ihm liegt ein gescheitertes Buchprojekt. Seit Jahrzehnten hat er den Vater nicht gesehen, nun überquert er Atlantik und Rocky Mountains, um ihn hoffentlich noch lebend anzutreffen. Doch was ist überhaupt ein Leben? Was weiß man von einem fremd gebliebenen Vater, von der Liebe der anderen und der eigenen? Und wie schreibt man darüber? Die Fahrt durch die kanadische Nacht führt den Erzähler immer tiefer in die eigene Herkunft und hinaus ins Offene. Als er den Vater erreicht, geht etwas zu Ende, aber etwas Neues beginnt auch: die Suche nach dem, was trotz aller Vergänglichkeit bleibt.
Mithu M. Sanyal, Literaturkritikerin | Journalistin | Autorin („Identtiti“ | Hanser Verlag)
Mithu Sandaal, 1971 in Düsseldorf geboren, ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht", 2016 „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens".
Identtiti: Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. Als würden Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken, beginnt damit eineJagd nach „echter“ Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihreStudentin Nivedita ihr intimste Fragen. Mithu Sanyal schreibt mit beglückender Selbstironie und befreiendemWissen. Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat. „Was für eine gnadenlos witzigeIdentitätssuche, die nichts und niemanden schont. Man ist nach der Lektüre nicht bloß schlauer – sondern auchgarantiert besser gelaunt.“ (Alina Bronsky)