06.11.2024

Marco Balzano über seinen Roman „Café Royal“

Interview: Ariane Binder
Übersetzung: Johannes Hampel
Redaktion: Laura Austen

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, gehört zu den zurzeit erfolgreichsten italienischen Autoren. Mit seinem Roman „Das Leben wartet nicht“ gewann er den Premio Campiello. Mit „Ich bleibe hier“ war er nominiert für den Premio Strega. In Italien und im deutschsprachigen Raum war das Buch ein großer Bestseller. Am 12. September 2024 sollte Marco Balzano seinen neuen Roman „Café Royal“ auf dem Blauen Sofa in Berlin vorstellen. Diesen Auftritt musste der Autor kurzfristig absagen. Die Fragen von Moderatorin Ariane Binder hat er schriftlich beantwortet.

Und so bleibt immerhin noch das Café einer der freiesten Orte der Begegnung und des Austausches. Dort kann ich Menschen treffen, die anders denken als ich, die auch anders Kaffee trinken als ich, die sich ihr Leben anders zurechtlegen und andere Geheimnisse als ich haben.

Sie verweben in Ihrem neuen Buch unglaublich kurzweilig und kunstvoll die Schicksale von 18 Menschen. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Reigen von Männern und Frauen, deren Verbindung hauptsächlich darin besteht, dass Sie in einem Mailänder Café ein und ausgehen?

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass die Plätze, die die Griechen früher Agorà nannten und als Ort für Begegnung und Meinungsaustausch betrachteten, immer mehr verwaisen? Diese Agoraì haben wir durch soziale Plattformen ersetzt. Dort finden heute unsere Diskussionen statt. Und so bleibt immerhin noch das Café einer der freiesten Orte der Begegnung und des Austausches. Dort kann ich Menschen treffen, die anders denken als ich, die auch anders Kaffee trinken als ich, die sich ihr Leben anders zurechtlegen und andere Geheimnisse als ich haben. Die Hauptfiguren von „Café Royal“ sind Frauen und Männer wie du und ich, die aus ihren Löchern hervorlugen und erkennen, dass sie ohne andere Menschen eigentlich gar nicht existieren.

Sie selbst sind ja in Mailand geboren. 1978. Was verbindet Sie persönlich mit dieser Straße, der Via Marghera? Und mit der Stadt? Die Bewohner, die Sie beschreiben, sind Mailand ja durchaus in einer Art Hass-Liebe verbunden?

Als junger Mann war ich mit einer Partnerin zusammen, die in dieser Straße wohnte. Die Straße kenne ich also wirklich gut. Aber vor allem gab es in der Via Marghera die erste Buchhandlung mit Sofas, wo auch Habenichtse wie ich herumsitzen und all die Bücher lesen konnten, die sie sich nicht selbst leisten konnten. Das war in den späten 1990er Jahren. Das war eine andere Welt. Diese Buchhandlung gibt es jetzt nicht mehr. Da steht jetzt ein Haushaltsgeräteladen. Aber im Roman existiert sie noch. Man schreibt doch auch, um Rache an der Wirklichkeit zu nehmen, oder?

Aber Mailand schafft es einfach, dich in die Gegenwart zurückzuversetzen, mit all ihren Wirrnissen, Problemen, der ganzen Mühsal. Mailand ist keine der vielen italienischen Kunststädte, die in einer wunderschönen, nicht mehr vorhandenen Vergangenheit einbalsamiert sind.

Was Mailand betrifft: Ich würde es kaum aushalten, wenn ich ganz weg wäre von Mailand, obwohl das Inbild der Schönheit für mich das Meer ist – und ich auch ein ziemlich guter Schwimmer bin. Natürlich ist allen Figuren klar, dass Mailand einerseits ein toller Ort ist, um Menschen zu treffen, andererseits auch ideal geeignet, um sich mitten unter Menschen einsam zu fühlen. Aber Mailand schafft es einfach, dich in die Gegenwart zurückzuversetzen, mit all ihren Wirrnissen, Problemen, der ganzen Mühsal. Mailand ist keine der vielen italienischen Kunststädte, die in einer wunderschönen, nicht mehr vorhandenen Vergangenheit einbalsamiert sind. Und ich verrate Ihnen jetzt was: In Mailand gibt es bezaubernd schöne Sonnenuntergänge, die die Wolkenkratzer in farbiges Licht tauchen. Man möchte es nicht vermuten. Aber es ist wirklich so!

Wofür steht die Via Marghera?

Es ist eine schmale, nicht sehr langgezogene Straße. Früher war sie eine Straße, die das Antlitz der Altstadt widerspiegelte, heute ist es eine Shoppingzone. Es gibt da zwar Restaurants, Cafés, Feinkostläden, Sushi, Boutiquen... In dieser Straße gibt es aber immer noch eine Art Kiezgefühl. Weil sie eher kurz ist, kennen sich die Bewohner. Sie reden vielleicht nicht miteinander, aber sie kennen sich. So ist das in Großstädten: Man ist Teil einer Art Gemeinde, ohne zu wissen, dass man dazugehört. Bis zu dem Tag, an dem man sich in einer Bar oder auf der Straße wiederfindet und im Gesicht des anderen sein eigenes Gesicht erkennt.

Und gibt es ein Vorbild fürs Café Royal?

Ja, ein altmodisch holzvertäfeltes Café in einem anderen Teil von Mailand, in der Nähe des Corso Sempione, wo ich zum Schreiben hingehe und wo ich mich oft mit Menschen aus beruflichen Gründen treffe. Oder wo ich einfach nur einen Kaffee trinken gehe. Ich brauchte einen Namen, der an ein Café denken lässt, in dem man sich hinsetzt und sich unterhält, und nicht bloß an eine Bar, wo man im Vorübergehen seinen Espresso kippt. Viele Leser haben sich auf die Suche gemacht. Nur wenige haben herausgefunden, dass es sich – auf halbem Weg in der Straße – um eine alte Konditorei handelt, deren Namen ich geändert habe; andere haben es mir krummgenommen, dass es das Café Royal nicht in der Wirklichkeit gibt. Zum Glück wird diese bittere Erfahrung den deutschen Lesern erspart bleiben.

Jetzt, wo Sie dieses Café weltberühmt gemacht haben, gibt es hoffentlich doch lebenslang Freigetränke für Sie?!

Sie überschätzen da die Spendierlaune der Mailänder...

Ihr Roman erzählt von Schicksalen, Sehnsüchten und Lebenskrisen. Das ist manchmal sehr traurig und trotzdem nie völlig dramatisch. War Ihnen das wichtig? Dass das keine fruchtbaren Schicksalsschläge sind, sondern eher Sorgen, mit denen sich ganz viele Menschen herumschlagen müssen?

Es ist genau so, wie Sie sagen. Diese Protagonisten sind wir, die durchschnittlich glücklichen Menschen des Westens, mit einem Arbeitsplatz, einer Wohnung, manchmal einer Familie und der Gewissheit, jederzeit die Teller mit Essen füllen zu können. Und doch tragen auch wir in der Enge unserer Behausungen Ängste in uns, die uns ins Unglück stoßen können: Unbehagen an unserer Umgebung, Fluchtbestrebungen, der Wille, uns ein anderes Leben vorzustellen als das, das wir eben so hinnehmen und das wir uns selbst aufgebaut haben. Es ist alles keine Tragödie, nur ein großes Bedürfnis, nach so viel Isolation infolge der gerade zu Ende gegangenen Pandemie die Welt wieder mit eigenen Augen zu sehen und zu erkunden, ob wir am richtigen Ort sind, mit dem Leben, das wir uns vorgestellt haben, oder ob die Gelegenheit günstig ist, neu anzufangen.

Eine große Rolle spielen auch Liebeskrisen. Es geht aber nicht um Trennungen oder Scheidungsdramen, sondern um die Zeit davor. In der ein Paar langsam spürt, etwas stimmt nicht mehr, da entfernen sich zwei Menschen voneinander, haben sich nichts mehr zu sagen – das ist sehr selten Thema, scheint mir. Was meinen Sie, warum wird so wenig darüber gesprochen?

Weil wir dazu neigen, die Signale zu ignorieren und im alten Trott weiterzumachen. Und da wir als erste diese Signale ignorieren, sind wir auch nicht in der Lage, anderen davon zu erzählen. Erzählen verlangt Bewusstsein von dem, was vorgeht. Und dann haben wir Angst, verurteilt zu werden, wir hegen Gefühle von Schuld und Scham... Ich glaube nicht, dass es arg viel Mühe kostet, das Leben Schritt für Schritt miteinander zu teilen: Diese Personen erkennen, dass sie einander nicht in Echtzeit gesagt haben, was sie erleben, was sie erleiden.

Erzählen verlangt Bewusstsein von dem, was vorgeht.

So fühlt sich der jeweilige Partner vor den Kopf gestoßen und gekränkt. Wenn ich es in einem Bild ausdrücken müsste, würde ich sagen, dass die Paare nicht mehr im Gleichklang auf denselben Stufen die Treppe hinaufsteigen, und dass sie sich gegeneinander darüber beschweren, dass sie weiter oben oder weiter unten gehen. Das passiert jedem, wenn es an „Achtsamkeit in den Gefühlen“ fehlt, wenn ich mal so sagen darf.

Einige Ihrer Geschichten – in denen es darum geht, wie Menschen die Liebe abhandenkommt – haben mich an ein Gedicht von Erich Kästner erinnert.

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. 

Kennen Sie das?

Das sind ja wunderbare Verse, danke, dass Sie mich mit ihnen bekannt gemacht haben! „Einander zu kennen“ ist immer von Vorteil, aber wir müssen bedenken, dass gerade die Menschen, mit denen wir tagtäglich umgehen, in gewisser Weise paradoxerweise diejenigen sind, die wir am wenigsten kennen, gerade weil sie uns nicht alles sagen können, gerade weil wir schließlich einander für etwas Selbstverständliches halten. Ich glaube, dass tatsächlich die Gefahr besteht, „dass die Liebe abhandenkommt“, wie es Kästner sagt. Aber einander „acht Jahre lang“ zu kennen, bietet auch eine besondere Chance, ein besonders inniges Verständnis zu erreichen.

Jedes Paar ist auf eine ganz persönliche Weise zusammen, die für andere kaum vorstellbar sein mag.

Das Problem ist, dass es zum einen Teil an uns liegt – Hingabe, Beziehungspflege, Gemeinsamkeitserfahrungen – und zum anderen Teil eben nicht, weil es um uns herum so viele Menschen gibt, mit denen wir gut oder sogar noch besser auskommen könnten. Zumindest gibt es nicht diese eine, einzige Person.

Woran würden Sie festmachen, ob sich ein Paar noch nahe ist oder tatsächlich schon Lichtjahre voneinander entfernt?

Jedes Paar ist auf eine ganz persönliche Weise zusammen, die für andere kaum vorstellbar sein mag. Es gibt Paare, die nur noch „als Alltagshilfe auf Gegenseitigkeit“ zusammen sind. Aber die sind nicht unbedingt unglücklicher als andere. Der Maßstab, wenn es denn einen gibt, ist meiner Meinung nach nur einer: Wie gelassen und wie gut gestimmt man mit dem anderen zusammen ist. Aber das ist ein subjektiver Maßstab, das ist mir schon klar.

Ist doch verrückt, dass wir am Ende einer Beziehung gerade die Eigenschaften am anderen besonders hassen, in die wir uns am Anfang verliebt haben, oder?

Sagen wir mal so: Es ist ein sehr guter Fingerzeig darauf, dass wir mit einer Person zusammen sein sollten, weil wir sie lieben und nicht nur, weil sie erwünschte Eigenschaften hat.

Sehr bewegt hat mich auch die Geschichte von Betti, einer alten Frau, die drei Kinder hat, und trotzdem entsetzlich einsam ist. Der Sohn hat ihr gerade eine Kamera in der Wohnung installiert, damit sie sicherer ist, falls sie mal stürzt. Das ist wirklich eine herzzerreißende Geschichte, wenn auch wahrscheinlich völlig verbreitet. Weil wir verdrängen wollen, wie einsam Menschen, Familienmitglieder um uns herum leben? 

Weil wir so exzessiv beschäftigt sind, uns selbst zu managen. Wir müssen, um unseren Arbeits-, Familien- und Sozialrhythmus aufrechtzuerhalten, sogar die Pflege unserer Angehörigen an andere auslagern. Ich habe einen Roman über dieses Thema geschrieben: „Wenn ich wiederkomme“. Es ist ein gewichtiges Thema, das uns alle betrifft und das mit der Migration vieler Frauen zu tun hat, die aus ärmeren Ländern kommen, um unsere hochbetagten Eltern und kleinen Kinder zu pflegen. Wir sollten das Thema stärker in den Blick nehmen. Wir sollten sogar, entschuldigen Sie bitte das Wortspiel, pfleglicher mit den Pflegenden umgehen.

Wir müssen, um unseren Arbeits-, Familien- und Sozialrhythmus aufrechtzuerhalten, sogar die Pflege unserer Angehörigen an andere auslagern.

Müssten wir uns dafür schämen? Dass wir so wenig füreinander da sind? 

Ich glaube nicht, dass ein Schriftsteller urteilen soll. Ein Schriftsteller muss eine Geschichte erzählen. Er muss eine Geschichte liefern. Dann entwickelt der Leser mit seiner Einfühlung und Intelligenz seine eigene Vorstellung und analysiert seine Gefühle. Ich persönlich glaube nicht, dass wir uns dafür schämen sollten, sondern ich glaube – ich wiederhole es hier –, dass wir uns der Welt, die wir aufgebaut haben, achtsamer bewusst werden sollten.

Ihre eigenen Eltern sind in den Siebzigern als arbeitssuchende Teenager aus dem Süden Italiens nach Mailand gekommen. Wie kommen sie im Alter mit der Härte der Großstadt zurecht. Und dieser Zeit, wo alte Konventionen und Familiensinn sich völlig verändert haben?

Als ich geboren wurde, waren meine Eltern gerade 19, sie sind also noch nicht so alt. Jeder ist ja ein Kind der Welt, in der sie oder er geboren und aufgewachsen ist. Nach so vielen Jahren sind sie vielleicht besser in der Lage, die gesellschaftlichen Veränderungen zu begreifen, die gerade stattfinden. Sicherlich bleiben sie in anderer Hinsicht an eine traditionellere Vorstellung von Arbeit, von Paarbeziehung, von Familie, von Arbeit gebunden, die in der Gegenwart immer weniger zu finden ist. Das ist verständlich, auch wenn es in meiner Jugend zu einer Reihe Missverständnissen geführt hat, die ich in „Damals, am Meer“, zu schildern versucht habe. Dies ist mein einziges wirklich biografisches Buch, in dem ich selbst, mein Vater und mein Großvater die Hauptfiguren sind.

Sehr nachdenklich gemacht hat mich auch Ihre Figur Sophia. Eine junge Obdachlose. Ihr Schicksal scheint auf den ersten Blick besonders tragisch. Aber am Ende scheint sie von allen mit am zufriedensten zu sein. Beziehungsweise weist darauf hin, dass das Leiden der gutsituierten, wohlhabenden Leute um sie herum oft nur weniger sichtbar sei. Ist das auch ein Motiv ihres Romans, dieses oft so versteckte Elend zu zeigen?

Ja, ganz sicher. Der Grundgedanke dieses Buches ist: Was verbirgt sich hinter unseren schönen Kleidern, unseren schönen Häusern, unseren intellektuellen Berufen? Welches verborgene Leid tragen wir in uns?

Wer ist eigentlich Ihre Lieblingsfigur? 

Giuliano, ein Priester, der gerade von einem Missionseinsatz in Afrika zurückgekehrt ist und feststellt, dass es leichter ist, im Elend Gutes zu tun als im Reichtum.

Und mit welcher hatten Sie am meisten Probleme?

Das Hauptproblem dieses Buches besteht darin, das Mosaik zusammenzusetzen, die Teile zusammenzufügen, im Reigen der wiederkehrenden Figuren, in der Änderung des Blickwinkels bei der Darstellung des Paares. Das ist ein sehr feingliedriger Mechanismus.

Vielleicht schnell noch ein Blick auf die wohl unsympathischste Figur – der Hausarzt, der sich unbarmherzig seine verzweifelten Patienten vom Leib hält! Seiner Frau zum 50. nur schnell einen Gutschein im Netz bestellt. Wieso beginnen Sie dieses Buch ausgerechnet mit so einem Verzeihung - Kotzbrocken?

Ich finde ihn gar nicht so einen Kotzbrocken. Oder besser gesagt: Er ist nicht nur widerlich, er merkt halt schlicht, dass er den falschen Beruf hat und die falsche Frau geheiratet hat. Er wollte eigentlich Lehrer für Literatur werden. Doch sein Vater hat ihn unwissentlich gezwungen, seine Arztpraxis zu erben. Ich finde, er hat die Leitidee der Krise, der Covid-Epidemie und des Wandels zur besseren Persönlichkeit gut umgesetzt: Die letzte Geschichte ist doch in Wirklichkeit eine Liebesgeschichte.

Ein unglaublich schöner Kunstgriff ist ja, wie sie durch den Wechsel der Perspektive, mein Mitgefühl für die Figuren erhöhen. Also erst hören wir etwa einen enttäuschten Ehe-Mann, der sich von seiner Frau nicht mehr gesehen fühlt. An anderer Stelle hören wir dann SIE und verstehen ein großes Stück mehr über BEIDE. Ist das die Kraft der Sprache und der Literatur? Dass Sie uns so verbindet. So unsere Empathie stärkt? Haben Sie darüber nachgedacht beim Schreiben?

Was Sie hier sagen, das ist das poetische Prinzip dieses Buches: zu analysieren, wie ein und dasselbe Thema von den beteiligten Personen unterschiedlich, manchmal sogar gegensätzlich, gesehen wird. Es ist eine Übung im Relativieren unserer Begründungen. Hätten wir nicht so unterschiedliche Standpunkte und Gründe für unsere Ansprüche, hätten die Psychotherapeuten nicht so ein hohes Einkommen!

Eine wichtige Rolle spielen in viele Episoden auch Zufälle, unerwartete Begegnungen. Wie sehr sind sie es, die unsere Hoffnung nähren, uns irgendwie auch am Leben halten?

Ich glaube, dass jeder von uns diese Frage für sich selbst beantworten kann, wenn sie oder er sich vor Augen führt, wie viele wichtige Ereignisse sich durch Zufall ergeben haben. Glücklicherweise gibt es solche unverhofften Augenblicke, in denen das Leben immer neue Überraschungen und ungeahnte Farben bereithält.

Was verbirgt sich hinter unseren schönen Kleidern, unseren schönen Häusern, unseren intellektuellen Berufen? Welches verborgene Leid tragen wir in uns?

Als ich Ihre Biografie gesehen habe, war ich überrascht, dass Sie nicht nur einer der erfolgreichsten Schriftsteller Italiens sind. Sie arbeiten auch immer noch als Lehrer für Literatur und Latein. Warum ist es Ihnen wichtig, mit einem Bein auch in dieser Welt zu bleiben?

Derzeit habe ich Lehraufträge an der Universität, aber ich unterrichte auch in Gefängnissen, in Krankenhäusern... Ich unterrichte gern; es gibt mir das Gefühl, etwas Nützliches für die Gesellschaft zu leisten. Wenn ich nur Schriftsteller wäre, würde ich mich verpflichtet fühlen, ständig zu schreiben – nicht nur dann, wenn ich etwas Dringendes mitzuteilen habe. Das wäre sehr gefährlich...

Vielleicht an Sie als Lehrer die Frage: Welches italienische Buch sollte in deutschen Schulen gelesen werden? 

„Agnes geht in den Tod“ von Renata Viganò.

Und welches deutsche in italienischen?

Bertolt Brecht.

Und gibt es ein Lieblingswort?

FELICITÀ – GLÜCK, weil ich nie so richtig weiß, was es wirklich bedeutet.

Und ein italienisches Wort, das wir auf jeden Fall kennen sollten?

Es ist an der Zeit, so genau wie möglich über das Wort PACE – FRIEDEN zu sprechen.  

Sie waren Mitunterzeichner eines offenen Briefes, der die Nicht-Einladung Roberto Savianos in die italienische Delegation kritisiert hat. Hat sich durch die Diskussion über diesen Brief in ihren Augen denn schon etwas in Bewegung gesetzt?

Ich glaube und hoffe das. Als Autoren haben wir im Zusammenwirken versucht, dem Brief praktische Wirkung zu verleihen und Roberto Saviano ohne Wenn und Aber zu unterstützen.

Vielen Dank Marco Balzano!

Ich danke Ihnen!

Marco Balzano
Café Royal
ET: 21. August 2024
Diogenes Verlag
Aus dem Italienischen von Peter Klöss